Was ist für den schöpferischen Akt wichtiger: der Einfall oder die Ausarbeitung? Johannes Brahms hatte zu diesem Thema eine dezidierte Meinung, sagte er doch einmal: „Das, was man eigentlich Erfindung nennt, also ein wirklicher Gedanke, ist sozusagen höhere Eingebung, Inspiration, dass heißt dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dies ‚Geschenk‘ gar nicht genug verachten, ich muss es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen.“
Das hier verfochtene protestantische Arbeitsethos mag auf simpel gestrickte Hedonisten wenig sexy wirken, in musikalischer Hinsicht zeitigte es jedoch beglückende Folgen. Dank ihrer „arbeitsamen“ Faktur hat die Brahms’sche Musik eine Tiefe, die zu einem sublimen ästhetischen Genuss einlädt. Gerade die Sinfonie Nr. 4 gilt als ein Inbegriff kunstvollster kompositorischer Verfahren.
Entstanden im österreichischen Mürzzuschlag: Brahms‘ Sinfonie Nr. 4
Brahms‘ letzte Sinfonie entstand während der Sommermonate 1884 und 1885 im österreichischen Mürzzuschlag am Fuße des Semmerings. Noch vor der Meininger Uraufführung unter der Leitung des Komponisten notierte die befreundete Elisabeth von Herzogenberg nach dem Partiturstudium des ersten Satzes: „Es geht mir eigen mit dem Stück; je tiefer ich hineingucke, je mehr vertieft auch der Satz sich, je mehr Sterne tauchen auf…, je mehr einzelne Freuden habe ich, erwartete und überraschende, und umso deutlicher wird auch der durchgehende Zug, der aus der Vielheit eine Einheit macht.“
Eben dieser Beziehungszauber, der aus der Vielheit eine Einheit macht, führte rund fünfzig Jahre später zu der folgenreichen Umpolung des Brahms-Bildes durch Arnold Schönberg. Galt Brahms zu seinen Lebzeiten als konservativer Antipode von Wagner und Liszt, so erklärte Schönberg ihn zu einem „Progressiven“. Schönberg wies dabei auch auf die Sinfonie Nr. 4 hin – und zwar auf fallende Terzenketten im Finalsatz, die mit dem Hauptthema des ersten Satzes korrespondieren. Dieses so melancholisch anmutende Thema beginnt mit absteigenden Terzen und aufsteigenden Sexten, es ist eine Tonfolge, die sich als eine abwärts gerichtete Terzenkette lesen lässt.
Neben solch „fortschrittlich“-konstruktiven Qualitäten wartet die 4. Sinfonie mit reizvoll archaisierenden Elementen auf. Dazu gehören die Anklänge an die phrygische Kirchentonart im zweiten Satz und erst recht der Gebrauch des barocken Passacaglia-Modells im Finale. Brahms entnahm das sich stetig wiederholende Thema der Passacaglia dem Schlusschor von Bachs Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“, bereicherte es durch eine chromatische Zwischenstufe und baute damit eine Variationenfolge von unvergleichlicher Wirkung. An die Metaphorik der hellsichtigen Elisabeth von Herzogenberg anknüpfend meinte der Musikkritiker und Brahms-freund Eduard Hanslick: „Wie ein dunkler Brunnen ist dieses Finale; je länger man hineinschaut, desto mehr und hellere Sterne glänzen uns entgegen.“
Die wichtigsten Fakten zu :
Besetzung: Zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, ein Kontrafagott, vier Waldhörner, zwei Trompeten, drei Posaunen, Triangel, Pauken, Streicher
Sätze:
- Allegro non troppo
- Andante moderato
- Allegro giocoso – Poco meno presto
- Allegro energico e passionato – Più Allegro
Aufführungsdauer: ca. 40 Minuten
Uraufführung: Die Uraufführung fand am 25. Oktober 1885 am Meininger Theater statt.
Referenzeinspielung:
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4 e-Moll, op. 98
Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly (Leitung)
Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester Leipzig präsentieren in dieser Einspielung eine packende Interpretation von Johannes Brahms‘ Sinfonie Nr. 4. Der Orchesterklang ist transparent, das Dirigat Chaillys bis ins Detail präzise.