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Brahms: Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Johannes Brahms‘ Sinfonie Nr. 4 gilt als ein Inbegriff kunstvoller Kompositionstechnik. Der vierte Satz des Werks prägte die öffentliche Wahrnehmung des Komponisten entscheidend.

vonGeorg Pepl,

Was ist für den schöpferischen Akt wichtiger: der Einfall oder die Ausarbeitung? Johannes Brahms hatte zu diesem Thema eine dezidierte Meinung, sagte er doch einmal: „Das, was man eigentlich Erfindung nennt, also ein wirklicher Gedanke, ist sozusagen höhere Eingebung, Inspiration, dass heißt dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dies ‚Geschenk‘ gar nicht genug verachten, ich muss es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen.“

Johannes Brahms, Fotografie von Fritz Luckhardt, 1885

Das hier verfochtene protestantische Arbeitsethos mag auf simpel gestrickte Hedonisten wenig sexy wirken, in musikalischer Hinsicht zeitigte es jedoch beglückende Folgen. Dank ihrer „arbeitsamen“ Faktur hat die Brahms’sche Musik eine Tiefe, die zu einem sublimen ästhetischen Genuss einlädt. Gerade die  Sinfonie Nr. 4 gilt als ein Inbegriff kunstvollster kompositorischer Verfahren.

Entstanden im österreichischen Mürzzuschlag: Brahms‘ Sinfonie Nr. 4

Brahms‘ letzte Sinfonie entstand während der Sommermonate 1884 und 1885 im österreichischen Mürzzuschlag am Fuße des Semmerings. Noch vor der Meininger Uraufführung unter der Leitung des Komponisten notierte die befreundete Elisabeth von Herzogenberg nach dem Partiturstudium des ersten Satzes: „Es geht mir eigen mit dem Stück; je tiefer ich hineingucke, je mehr vertieft auch der Satz sich, je mehr Sterne tauchen auf…, je mehr einzelne Freuden habe ich, erwartete und überraschende, und umso deutlicher wird auch der durchgehende Zug, der aus der Vielheit eine Einheit macht.“

Mürzzuschlag, Postkarte ca. 1890-1900 © gemeinfrei
Mürzzuschlag, Postkarte ca. 1890-1900

Eben dieser Beziehungszauber, der aus der Vielheit eine Einheit macht, führte rund fünfzig Jahre später zu der folgenreichen Umpolung des Brahms-Bildes durch Arnold Schönberg. Galt Brahms zu seinen Lebzeiten als konservativer Antipode von Wagner und Liszt, so erklärte Schönberg ihn zu einem „Progressiven“. Schönberg wies dabei auch auf die Sinfonie Nr. 4 hin – und zwar auf fallende Terzenketten im Finalsatz, die mit dem Hauptthema des ersten Satzes korrespondieren. Dieses so melancholisch anmutende Thema beginnt mit absteigenden Terzen und aufsteigenden Sexten, es ist eine Tonfolge, die sich als eine abwärts gerichtete Terzenkette lesen lässt.

Johannes Brahms, Sinfonie Nr 4. Das erstes Thema mit fallenden Terzen und steigenden Sexten zu Beginn des 1. Satzes in den 1. und 2. Geigen
Johannes Brahms, Sinfonie Nr 4. Das erstes Thema mit fallenden Terzen und steigenden Sexten zu Beginn des 1. Satzes in den 1. und 2. Geigen

Neben solch „fortschrittlich“-konstruktiven Qualitäten wartet die 4. Sinfonie mit reizvoll archaisierenden Elementen auf. Dazu gehören die Anklänge an die phrygische Kirchentonart im zweiten Satz und erst recht der Gebrauch des barocken Passacaglia-Modells im Finale. Brahms entnahm das sich stetig wiederholende Thema der Passacaglia dem Schlusschor von Bachs Kantate „Nach dir, Herr, verlanget mich“, bereicherte es durch eine chromatische Zwischenstufe und baute damit eine Variationenfolge von unvergleichlicher Wirkung. An die Metaphorik der hellsichtigen Elisabeth von Herzogenberg anknüpfend meinte der Musikkritiker und Brahms-freund Eduard Hanslick: „Wie ein dunkler Brunnen ist dieses Finale; je länger man hineinschaut, desto mehr und hellere Sterne glänzen uns entgegen.“

Die wichtigsten Fakten zu :

Besetzung: Zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, ein Kontrafagott, vier Waldhörner, zwei Trompeten, drei Posaunen, Triangel, Pauken, Streicher

Sätze:

  1. Allegro non troppo
  2. Andante moderato
  3. Allegro giocoso – Poco meno presto
  4. Allegro energico e passionato – Più Allegro

Aufführungsdauer: ca. 40 Minuten

Uraufführung: Die Uraufführung fand am 25. Oktober 1885 am Meininger Theater statt.

Referenzeinspielung:

Cd Cover: Johannes Brahms: Symphonien Nr.2 & 4 gespielt von Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung Riccardo Chailly

Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4 e-Moll, op. 98

Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly (Leitung)

Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester Leipzig präsentieren in dieser Einspielung eine packende Interpretation von Johannes Brahms‘ Sinfonie Nr. 4. Der Orchesterklang ist transparent, das Dirigat Chaillys bis ins Detail präzise.

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Präludium

Buchcover: Präludien für das Publikum von Mathias Husmann(UA 1885 Meiningen) Die vierte Symphonie beginnt nicht – sie hatte bereits angefangen, bevor sie beginnt: doch nach Beendigung der Partitur strich Brahms die ersten vier Einleitungstakte. Nun hebt die Musik so unmerklich an, als käme jemand durch die Tür, ohne sie zu öffnen – das aber kann nur einer: die Vierte ist ein Totentanz. Der illusionslose Blick auf das Ende, der illusionslose Blick von dort zurück – das ist es, was die Freunde von Brahms bei der ersten Begegnung mit dem vierhändigen Klavierarrangement erschrecken ließ. Der erste Satz spiegelt das wachsende Bewußtwerden des sich auf der letzten Reise Befindens. Der zweite Satz ist der Blick zurück aus bereits unendlichem Abstand – daher der ferne, altertümlich anmutende Klang. Der vierte Satz – die Passacaglia – ist der eigentliche Totentanz: ein Gestalten in größter Freiheit (die Variationen) über härtester Gesetzmäßigkeit (das ständig anwesende Passacagliathema). Brahms gestattete sich die Freiheit, den dritten Satz – eine Burleske alias Scherzo – zuletzt zu komponieren – so hatte er bei diesem Triumph des lachenden Todes wenigstens die Genugtuung eines triumphalen Finales mit Piccolo und Triangel. Sie sei ihm gegönnt! Uns mutet er nach dem Todeslachen der Burleske den Todeskampf der Passacaglia zu. Dennoch: zwei liebevolle Passagen bleiben unvergeßlich: im zweiten Satz der Garten der Erinnerung ( Violoncello), und in der Passacaglia der Gesang der Nachtigall über dem künftigen Grab ( Flöte und Posaunen). Die vier Symphonien von Johannes Brahms – im Ringen um die Meisterschaft/ im Bewußtsein der Meisterschaft/ zum Frieden mit der Welt/ beim Abschied – sind ein leuchtender künstlerisch – menschlicher Regenbogen. (Mathias Husmann)

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