1824 wurde Beethovens Sinfonie Nr. 9 zum ersten Mal in Wien aufgeführt. Es sollte das letzte Konzert des Komponisten werden, der mehr als sechs Jahre daran arbeitete. Den frenetischen Applaus konnte er lediglich sehen – Beethoven war zu diesem Zeitpunkt schon völlig taub.
Beethoven überschreitet Grenzen
Für den Schlusssatz verwendete Beethoven die komplette 1. und 3. Strophe sowie einige Teile der 2. und 4. Strophe aus Schillers „An die Freude“, die der Dichter übrigens keineswegs als Meisterwerk seinerseits bezeichnete. Beethoven hat das Gedicht jedoch geliebt und schon in seiner Bonner Zeit dessen Vertonung geplant. Anlass war 1817 ein Auftrag der Londoner Philharmonic Society für zwei Sinfonien. Was ist so neu an der Neunten? Beethoven vollendet die klassische Form der Sinfonik und erweitert sie gleichzeitig. Mit dem Schlusssatz verlässt er den Bereich der absoluten Musik – der Freudenhymnus steigert sich zu einer Feier allumspannender Brüderlichkeit, die den Idealismus à la Schiller in Beethovens Klangwelt versetzt.
Die 9. Sinfonie gelangte in einem Konzert zur Uraufführung, das Beethoven am 7. Mai 1824 im Kärntnertortheater veranstaltete. Es begann mit der Ouvertüre zu „Die Weihe des Hauses“ op. 124, die er zur Eröffnung des umgebauten Theaters in der Josefstadt in Wien geschrieben hatte, gefolgt von Auszügen aus der „Missa solemnis“ op. 123. Nach der Pause erklang erstmals die neunte Sinfonie, die Friedrich Wilhelm III. König von Preußen gewidmet ist. Solisten der Uraufführung waren Henriette Sontag, Caroline Unger, Anton Haizinger und Joseph Seipelt, Dirigent war Michael Umlauf.
Mittendrin trotz Taubheit
Schon zwei Jahre zuvor war Beethoven aufgrund der sehr fortgeschrittenen Schwerhörigkeit nicht mehr in der Lage, ein Orchester alleine zu dirigieren. Doch Beethoven stand während der Aufführung trotzdem am Pult: und zwar hinter Michael Umlauf, wild gestikulierend den Ausdrucksgehalt der Musik wiedergebend. Beim Schlusssatz stand er mit dem Rücken zum Publikum und las die Worte der Sänger von ihren Mündern ab. Nach der Aufführung brach ein frenetischer Beifall los, doch erst nachdem die junge Sängerin Caroline Unger Beethoven zum jubelnden Publikum umgedreht hatte, sah der Komponist die begeisterte Menge. Das Konzert wurde am 23. Mai im Großen Redoutensaal der Hofburg wiederholt.
Die neunte Sinfonie: Ein Werk mit weitreichenden Folgen
Mit seinem hymnisch-theatralischen Finale schuf Beethoven ein gewaltiges Vermächtnis mit weitreichenden Folgen, nicht nur für die nachfolgenden Komponistengenerationen: Schon seit 1972 ist die Melodie aus dem Schlusssatz offizielle Hymne des Europarats, dreizehn Jahre bevor Herbert von Karajans Instrumentalversion zur offiziellen Hymne der damaligen Europäischen Gemeinschaft erklärt wurde. Bei den olympischen Spielen zwischen 1956 und 1964 war sie zudem Hymne der gesamtdeutschen Mannschaft. 1972 wurde das Hauptthema des letzten Satzes vom Europarat zu seiner Hymne erklärt und 1985 von der Europäischen Gemeinschaft als offizielle Europahymne angenommen. In der Begründung heißt es, sie versinnbildliche die Werte, die alle teilen, sowie die Einheit in der Vielfalt.
Odyssee einer Partitur
Nach Beethovens Tod verschwanden einige Seiten des Autografs auf unbekannte Weise. Erst 1901 gelang es, die wesentlichen Teile der Handschrift wieder an einem Ort zu vereinen. Vier Jahrzehnte ruhten sie in der Königlichen Bibliothek Berlin – bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, durch den die Partitur wieder auseinandergerissen wurde: Um den kostbaren Notentext vor den Kriegseinwirkungen zu schützen, begann die Preußische Staatsbibliothek damit, ihn an verschiedene Orte auszulagern – die Partitur wurde dreigeteilt, um schließlich 1977 erneut in Berlin vereint zu werden. Immerhin befanden sich jetzt alle Teile in derselben Stadt, einer Stadt allerdings, die selbst zweigeteilt war. Die Berliner Mauer verlief also auch buchstäblich quer durch die neunte Sinfonie. Einen Monat nach dem Fall der Berliner Mauer wurde sie im Ostberliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt unter Leonard Bernstein aufgeführt, wenn auch mit leicht verändertem Text: „Freiheit, schöner Götterfunken“. Das in der Staatsbibliothek zu Berlin befindliche Autograf der 9. Sinfonie ist Bestandteil des Weltdokumentenerbes der UNESCO und seit 1997 nun hoffentlich endgültig vereint.
Übrigens: Auch die Aufnahmekapazität einer CD ist der Sinfonie zu verdanken. Der damalige Sony-Vizepräsident und Opernsänger Norio Ōga wollte die neunte Sinfonie vollständig und ohne CD-Wechsel hören. Ausschlaggebend war dabei die längste Aufnahme von Wilhelm Furtwängler, entstanden am 29. Juli 1951 während der Bayreuther Festspiele. Diese Aufnahme dauert exakt 74 Minuten und war zuvor auf zwei Langspielplatten erhältlich.
Die wichtigsten Fakten zu Beethovens Sinfonie Nr. 9:
Orchesterbesetzung
Piccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Große Trommel, Becken, Triangel, Streicher, Chor, Solisten (Sopran, Alt, Tenor & Bariton oder Bass)
Satzbezeichnungen
1. Satz: Allegro ma non troppo, un poco maestoso (d-Moll)
2. Satz: Molto vivace – Presto (d-Moll)
3. Satz: Adagio molto e cantabile – Andante moderato (B-Dur)
4. Satz: Finale: Presto – Allegro assai – Allegro assai vivace (alla marcia) – Andante maestoso – Adagio ma non troppo ma divoto – Allegro energico e sempre ben marcato – Allegro ma non tanto – Presto – Maestoso – Prestissimo (d-Moll/D-Dur)
Aufführungsdauer: ca. 70 Minuten
Referenzeinspieleung
Beethoven: Sinfonie Nr. 9
Wiener Philharmoniker, Wilhelm Furtwängler (Leitung)
Auch heute, mehr als 50 Jahre nach seinem Tod, ist Wilhelm Furtwängler eine Ikone und aus dem Musikleben nicht mehr wegzudenken. Bereits über hundert Mal hat er Beethovens Sinfonie dirigiert. Seine Interpretation ist mit Vorfreude, Ekstase und Kraft gefüllt. Die Ecksätze sind spannungsgeladen und in den lyrischen Passagen, insbesondere im langsamen dritten Satz, lässt er sie in flexiblen Tempi umfassend aussingen. Ein intensiver Hörgenuss!