(UA Mailand 1896)
1789. Schloßfest in der französischen Provinz. Beunruhigende Nachrichten aus Paris. Der junge Dichter Andre Chenier empört die Anwesenden durch einen Vortrag über den Geiz des Adels, das Elend des Volkes und die Ideale einer neuen, freien und gerechten Gesellschaft. Nur Madeleine, Tochter des Hauses, und der in sie aussichtslos verliebte Diener Charles Gerard teilen seine Ansichten.
1794. Paris unter der Schreckensherrschaft von Robespierre. Chenier, konterrevolutionärer Gedanken verdächtigt, muß sich ebenso vor den Spitzeln (L’Incroyable) verbergen wie die adelige Madeleine. Über ihre Zofe, die Mulattin Bersi, welche zum Überleben „anschafft“, begegnen sich beide wieder. Gerard ist mittlererweile zu einem führenden Revolutionär geworden. Als er Chenier und Madeleine zusammen sieht, lässt er ihn eifersüchtig vor Gericht stellen und bezichtigt ihn, sich mit dem Adel verbündet zu haben. Madeleine bittet Gerard, Cheniers Freilassung zu erwirken, dafür will sie sich ihm hingeben. Durch ihre Opferbereitschaft gerührt, widerruft Gerard seine Anklage, aber vergeblich: der Pöbel schreit nach Cheniers Tod. Madeleine besticht den Pförtner des Gefängnisses (St.Lazare), sie gegen eine andere Gefangene auszutauschen. Hand in Hand steigen Madeleine und Chenier auf die Guillotine.
Der historische Andre Chenier (1762-1794) schwärmte erst vor dem Adel von der Revolution, verteidigte dann aber Louis XVI. und geriet so ins Visier von Robespierre.
Madeleine von Coigny wandelt sich von der arroganten Adelstochter über die durch die Revolution erniedrigte Flüchtende zur mutigen Wegbegleiterin von Chenier. Ihre Vision des vom Himmel steigenden liebenden Todesengels ist Mittelpunkt der Oper. Ich vergesse nicht jene Aufführung, in welcher eine hoffnungslos krebskranke Sopranistin ihre Seele in diese Arie legte.
Charles Gerard berührt als Figur durch seine inneren Kämpfe und Läuterungen: er beginnt als gedemütigter Diener, gerät in den Strudel der Revolution, wird hin und hergerissen von Gier und Rache, reift dann durch die Opferbereitschaft von Madeleine zu einem aufrichtigen Menschen. Der Einfluss von Alessandro Manzoni und Victor Hugo auf den Text von Luigi Illica, welcher einige Jahre später Tosca für Giacomo Puccini schrieb, ist spürbar.
Die Musik wirkt wie eine von Graffiti verschmierte Hauswand: Zitate von Tänzen des ancien regime (Gavotte, Menuett) und Revolutionslieder (Carmagnola, Marseillaise) bezeichnen den Collagestil des Verismo. Die Auflösung alter Gesellschaftsformen wird an der Auflösung der musikalischen Formen greifbar: die Arien sind kaum abgesetzt, kaum gegliedert, der Gesangsstil wechselt zwischen melodischem Pathos und roher Deklamation, der Chorpart ist wild und häßlich.
Umberto Giordano (1867-1948) gelang mit Andrea Chenier ein Welterfolg – einhundert Jahre nach der französischen Revolution: ein faszinierend realistischer Nachklang!
(Mathias Husmann)