Es war Verdis vierte Arbeit für die französische Hauptstadt und zugleich seine vierte nach einer Vorlage von Friedrich Schiller. Dessen Theaterstücke hatten es ihm schon früh angetan und ihn nicht mehr losgelassen, seit er 1845 für das Teatro alla Scala das Libretto „Giovanna d’Arco“ vertont hatte. Die feurige Mischung aus politischer Freiheitsbewegung, Intrigen, Freundschaft und verbotener Liebe, die Schillers „Don Carlos“ bot, begeisterten den Komponisten sofort. Weniger angetan war er indessen vom Auftraggeber, der Pariser Oper, die zur Feier der Weltausstellung im Jahr 1867 ein neues Werk bestellt hatte. In einem Brief hielt er fest: „Für die ‚Opéra’ komponieren, bei den Allüren einer Frau Meyerbeer, die ihre Broschen, Armbänder, Medaillons, Tabakdosen, Kommandostäbe etc. zur Schau stellt. Eine reizende Vorstellung!“
Oper ja, aber bitte französisch!
Das Libretto musste dann auch dem Pariser Geschmack entsprechend eingerichtet werden – also in französischer Sprache, in fünf Akten und mit einem in die Handlung integrierten Ballett zu Beginn des dritten Aktes. Diese formale Anlage war ein Erbe Meyerbeers und gegen Verdis musikdramatische Intentionen. Und als ob die Sterne nicht schon ungünstig genug gestanden hätten, verstarb auch noch der beauftragte Librettist Joseph Méry, bevor er die Arbeit am Text beenden konnte. Camille du Locle stellte das Libretto an seiner Stelle fertig und 1866 begann Verdi mit der Komposition seiner umfangreichsten Oper.
Schon vor der Generalprobe am 24. Februar 1867 kollidierte Verdis riesige Partitur dann leider mit der Bühnenrealität. So musste er den Trauergesang von König Phillipp II. zum Tod des Marquis Posa streichen, weil der Sänger sich weigerte für die Dauer der Nummer eine Leiche spielend am Boden zu liegen. Außerdem verwies man Verdi auf die hiesigen Zugfahrpläne: Weil die letzten Züge in die Vororte kurz nach Mitternacht abfuhren, sollte eine Vorstellung auch nicht länger dauern. Früher anzufangen war aber genauso wenig eine Option, weil sich das Publikum sonst beim Abendessen hätte übereilen müssen.
„Don Carlos“ in sieben Versionen
Es folgte eine scheinbar endlose Geschichte der Überarbeitung: Weil die für die Generalprobe ausgeführten Streichungen nicht ausreichend waren, das Werk auf die gewünschte Länge zu bringen, musste Verdi schon für die Uraufführung eine dritte Fassung seines Werkes vorlegen. Und weil dieser leider nur ein mäßiger Erfolg beschieden war, spielte man bei der zweiten Pariser Aufführung am 13. März eine vierte Fassung. Auch von dieser ließ sich das Publikum aber leider nicht nachdrücklich begeistern. Um sein Werk doch noch auf den europäischen Bühnen zu etablieren, überarbeitete Verdi seinen „Don Carlos” mehrfach und so liegen insgesamt sieben Fassungen vor. Die letzte wurde zwanzig Jahre nach der Pariser Uraufführung im Dezember 1886 in Modena aus der Taufe gehoben.
Heute zählt „Don Carlos“ zu Verdis meistgespielten Opern und er selbst war auch von Anfang an von seinem Werk überzeugt. Insgesamt gesehen liegt seine hauptsächliche Leistung darin, dass er sich von der etablierten formalen Anlage der Oper löst. An die Stelle der traditionellen Arien setzte er Lied- und Strophenformen, komponierte außerdem Romanzen und Balladen.
Nicht nur deshalb war „Don Carlos“ eigentlich von Anfang an ein Unikat – Verdi verzichtete außerdem weitgehend auf die für ihn typische Kontrastdramaturgie, die bunte Volksszenen neben tragische Einzelschicksale und euphorische Liebesszenen neben Mord und Totschlag setzt. Eine der wenigen Szenen, die hoffnungsfroh und gelöst wirkt, ist das Sich-Ineinander-Verlieben von Don Carlos und Elisabeth im ersten Akt. Ansonsten ist die Musik für Verdi ungewöhnlich düster und voller melancholischer Klangfarben, wie man sie in solcher Dichte in keinem anderen Bühnenwerk von ihm findet. Und womöglich hat genau das zur heutigen Beliebtheit des Werkes beigetragen.
Vivat l’amicizia! Es lebe die Freundschaft!
Um abschließend eine weitere der vielen Besonderheiten der Oper hervorzuheben, sei darauf verwiesen, dass die Vertonung des Schwurs auf ewige Freundschaft zwischen Don Carlos und dem Marquis Posa eine Sonderstellung in Verdis Schaffen einnimmt. Die Leidenschaft der Musik, mit der Verdi diesen Moment vertont, sucht ihresgleichen. Entsprechend rückt die Freundschaft zwischen Don Carlos und dem Marquis stark in den Vordergrund. Matthias Husmann schreibt in seinen „Präludien für’s Publikum“ dazu: „Verdi wollte seine Oper nicht auf die Dreiecksbeziehung Philipp/Carlos/Elisabeth reduziert wissen.“ Und tatsächlich hat Verdi das Thema Männerfreundschaft nie so intensiv bearbeitet wie hier.
Die wichtigsten Fakten zu Giuseppe Verdis „Don Carlos“:
Besetzung: Philipp II., König von Spanien (Bass); Elisabeth von Valois, seine Gemahlin (Sopran); Don Carlos, Infant von Spanien (Tenor); Prinzessin von Eboli, Dame der Königin (Mezzosopran); Gräfin von Aremberg, Dame der Königin (stumme Rolle); Rodrigo, Marquis von Posa, ein Malteserritter, Grande von Spanien (Bariton); Graf von Lerma, Grande von Spanien (Tenor); Thibault/Tebaldo, ein Page der Königin (Sopran); ein königlicher Herold (Tenor); eine Stimme von oben (Sopran), der Großinquisitor des Königreiches (Bass), ein Mönch bzw. Kaiser Karl V. (Bass)
Orchesterbesetzung: Drei Flöten (3. auch Piccolo), zwei Oboen (2. auch Englischhorn), zwei Klarinetten, vier Fagotte (4. auch Kontrafagott), vier Hörner, zwei Trompeten, zwei Cornets à pistons, drei Posaunen, Ophikleide, Pauken, Schlagwerk, Orgel, Harfe, Streicher
Orchesterbesetzung auf der Szene: Banda
Bühnenmusik hinter der Szene: Kanone, Kastagnetten, Tamburin, Harmonium oder Orgel, Harfe
Aufführungsdauer: 3 ½ Stunden (Originalfassung)
Uraufführung: Die französische Originalfassung wurde am 11. März 1867 an der Opéra National de Paris uraufgeführt
Referenzeinspielung
Verdi: Don Carlos
Placido Domingo, Katia Ricciarelli, Lucia Valentini Terrani, Ruggero Raimondi, Leo Nucci, Nicolai Ghiaurov, La Scala Orchestra, Claudio Abbado (Leitung) – Deutsche Grammophon
Möchte man sich mit Verdis Schaffen auf dem Gebiet der Grand Opéra beschäftigen, dann empfiehlt sich diese Ersteinspielung der französischen Fassung. Das für die Gattung obligatorische Ballett und einige Szenen, die Verdi später gestrichen hat, stehen zwar leider nicht an der vorgesehen Stelle. Sie folgen am Ende als Einzeltitel auf die gekürzte Oper. Aber alle diese Nummern sind absolut hörenswert und präsentieren im Besonderen Verdis bis heute leider oft unterschätztes Schaffen auf dem Gebiet der Ballettmusik. Die Besetzung dieser Aufnahme aus dem Jahr 1993 spricht für sich und lässt keine Wünsche offen.