Siegfried ist aus dem Inzest von Sieglinde und Siegmund hervorgegangen, hat aber trotzdem keinen genetischen Defekt davongetragen, sondern eher (zu) viel, Kraft beziehungsweise – um dem Libretto enger zu folgen – keine Furcht. Er wächst beim Zwerg Mime auf, der die Reste des Schwertes Nothung besitzt, ohne zu wissen, was es damit auf sich hat. Siegfried ist zwar noch nicht erwachsen, schmiedet aber das Schwert neu, was Mime nie gelungen war.
Beide machen sich im zweiten Aufzug auf zur Höhle von Fafner. Der einstige Riese hat sich in einen Drachen verwandelt und bewacht das Rheingold, das Wotan ihm zwei Opern zuvor überlassen musste, weil Wotans Götterburg Walhall etwas teurer wurde als geplant. Im Schatz befinden sich auch der Zauberring und der Tarnhelm.
Furchtlos dank Drachenblut
Siegfried wäre freilich kein echter Held, wenn er es nicht auch mit Drachen aufnähme. Fafners Schicksal ist besiegelt, und Siegfried kann sich, nachdem er ihn erschlagen hat, gleich noch eines Schlucks „Zaubertrank“ bedienen: Dadurch, dass er Drachenblut trinkt, kann er Mimes eigentliche Absicht durchschauen. Der hatte geplant, Siegfried zu töten, nachdem der den Drachen besiegt hat. Schlecht für Mime, aber irgendwie auch selbst schuld – schließlich hatte Wotan ihn im ersten Aufzug in Gestalt eines Wanderers gewarnt, dass genau dies passieren würde: Der furchtlose Held – Siegfried – werde das Schwert schmieden und ihn – Mime – töten. Was dann auch passiert.
Das Drachenblut hat aber noch eine andere Wirkung: Siegfried versteht die Sprache der Vögel. Der Waldvogel, der ihn bereits in Bezug auf Helm und Ring beraten hatte, leitet ihn nun in Richtung Brünnhilde. Denn was ist ein echter Held ohne eine Frau an seiner Seite?
Wagners merkwürdiger Umgang mit Familienkonstellationen
Wotan begreift derweil, dass ihm die Handlungsfäden entgleiten. Im dritten Aufzug weckt er Erdgöttin Erda, mit der er einst Brünnhilde zeugte. Dummerweise weiß diese auch keine Rat, sodass sich bereits hier die für den letzten Teil der Tetralogie titelgebende „Götterdämmerung“ anbahnt.
Tatsächlich geht es schon beim folgenden Treffen zwischen Wotan und seinem Enkel Siegfried los. Der Jüngere zeigt keinen Respekt und zerschlägt Wotans Speer, der sich daraufhin in seine Götterburg zurückzieht. Siegfried befreit Brünnhilde, die, weil sie sich eine Oper zuvor gegen Wotan stellte, gefangen war und fortan als normal sterbliche Frau zu leben hat.
Wieder zeigt sich Wagners etwas merkwürdiger Umgang mit Familienkonstellationen – oder zumindest der in der nordischen Sagenwelt, von der Wagner sich inspirieren ließ. Siegfried ist Wotans Enkel, Brünnhilde aber Wotans Tochter, wenn auch weder Mutter noch Tante von Siegfried, sondern seine Halbtante, der Polygamie in der Götterwelt sei Dank. Wie auch immer, beide feiern ihre Liebe, die freilich auch nicht lange von Glück geprägt sein wird. Doch dafür heißt es, noch einen langen Abend im Theater zu verbringen. Fortsetzung folgt.
Zwischenapplaus zwecklos
Wie auch im sonstigen „Ring des Nibelungen“ folgt „Siegfried“ dem von Wagner verwendeten Arbeitsablauf. In relativ kurzer Zeit von gut einem Jahr entstand 1851/52 der Text, allerdings überwiegend nach der „Götterdämmerung“ und vor „Walküre“ und „Rheingold“. Wagner sah sich nach jedem Teil genötigt, den Ursprung der Geschichte weiter zu erläutern. Das Libretto ist wie die anderen Teile fast durchgehend im Stabreim gehalten. „Brennender Zauber zückt mir ins Herz; feurige Angst fasst meine Augen: mir schwankt und schwindelt der Sinn!“ heißt es etwa, als Siegfried Brünnhilde befreit. Oder vorm Kampf mit dem Drachen auch mal unfreiwillig komisch: „Eine zierliche Fresse zeigst du mir da, lachende Zähne im Leckermaul!“
Für die Musik brauchte Richard Wagner deutlich länger, im Fall von „Siegfried“ von 1857 bis 1869 und damit zwölf Jahre. Sie arbeitet mit teils neuen, teils wiederkehrenden Leitmotiven und den für Wagner so typischen nahtlosen Übergängen, die jede Regung nach Zwischenbeifall von vornherein unterbinden. Das einzige, was der Oper fehlt, ist das eine Musikstück, das auch im Konzertsaal heimisch wurde. Davon gibt es nach dem Walkürenritt in der „Walküre“ erst wieder in der „Götterdämmerung“ ein Beispiel.
Die wichtigsten Fakten zu Richard Wagners „Siegfried“:
Die Uraufführung fand am 16. August 1876 im Bayreuther Festspielhaus im Rahmen der ersten Gesamtaufführung des „Rings des Nibelungen“ statt. Die Leitung hatte Hans Richter.
Orchesterbesetzung: 3 Flöten, 2 Pikkoloflöten, 3 Oboen, Englisch Horn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 8 Hörner, 3 Trompeten, Basstrompete, 4 Wagnertuben, 4 Posaunen, Tuba, Pauken, Tam-Tam, Triangel, Becken, 6 Harfen, Streicher
Spieldauer: Ca. 4 Stunden
Referenzeinspielung
Hans Swaroswkys Aufnahme von „Siegfried“ aus dem Jahr 1968 ist geprägt von packendem Zugriff bei gleichzeitig transparentem Klangbild, das die Sänger ebenso gut durchhören lässt wie Wagners raffinierte Klangmischungen. Innerhalt des Sängerensembles ist vor allem Nadezda Kniplova zu erwähnen, auch wenn sie als Brünnhilde nur in der letzten halben Stunde zum Einsatz kommt. Die tschechische Sängerin war ein Jahr zuvor von Herbert von Karajan entdeckt worden und feierte später große internationale Erfolge.
Wagner: „Siegfried“
Prague Philharmonic, Hans Swarowsky (Leitung)
Mit: Gerald McKee, Herold Kraus, Rolf Polke, Rolf Kühne, Takao Okamura, Ursula Boese, Nadezda Kniplova und Bella Jasper