Dass sein „Tannhäuser“ einmal zum Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher Forschung würde, damit hat Richard Wagner sicherlich nicht gerechnet. 2008 veröffentlichten der Spieltheoretiker Steffen Huck und zwei Kollegen einen Aufsatz über „Tannhäusers Dilemma“. Vor diesem stünde der Minnesänger nämlich bei seiner Teilnahme am Sängerkrieg auf Wartburg: Verliert er den Schlagabtausch um den Lobpreis der Liebe, wird es auch nichts mit der erhofften Beziehung zu Elisabeth; setzt er sich indes durch, ist ihm zwar die Ehe mit der Angebeteten gewiss, doch die Aussicht auf Buße dahin. Und letztere hat er der herrschenden Moral zufolge nach seiner frivolen Zeit im Venusberg mehr als nötig. Mit welcher Entscheidung erzielt er also den größten Nutzen, fragten sich die Ökonomen und antworteten: „Er kann sich nur durch das Preisen der Sünde retten.“
Dialektik über Dialektik
In kaum einer anderen Oper lässt Wagner auf engstem Raum so viele Grundsatzfragen verhandeln wie im „Tannhäuser“. Was ist gewichtiger? Die reine, seelisch erfüllende Liebe oder die bloße Befriedigung des eigenen Triebs? Entscheidet man sich für ein Leben mit der zur Heiligen verklärten irdischen Geliebten oder doch mit der stets lustvoll bereiten Göttin der Liebe? Kann sich der Künstler frei entfalten und Anerkennung erfahren oder obsiegt die Mehrheitsgesellschaft mit ihren spießigen Moralvorstellungen? Insbesondere letztgenannte Dialektik beschäftigte den Komponisten auch auf seinem Lebensweg. Zum Zeitpunkt der Uraufführung im Oktober 1845 schien Wagners bürgerliche Existenz als Dresdner Kapellmeister einstweilen gefestigt.
Drei Jahre hatte er an seiner romantischen Oper gearbeitet, dessen titelgebender Minnesänger anfangs noch im reizüberfluteten Reich der Venus verweilt. Nachdem er der Liebesgöttin höchstpersönlich beigewohnt hat, verlässt er allen Warnungen zum Trotz den Venusberg. Im Tal er trifft auf seine einstigen Dichter-Kameraden und den Landgrafen Hermann, der zugleich zum Sängerkrieg auf der Wartburg aufruft. Dort angekommen, begegnet Tannhäuser der Nichte des Adeligen, Elisabeth, und beide versprechen sich einander.
Zu späte Erlösung verhindert Happy End
Die Musensöhne besingen die metaphysische, keusche Natur der Liebe. Tannhäuser aber, der als Einziger die Sinnlichkeit erfahren hat, erbost sich zunehmend ob der Unwissenheit seiner Brüder. Angestachelt von Wolfram von Eschenbach singt er schließlich von seinem Leben im Venusberg („Dir, Göttin der Liebe, soll mein Lied ertönen, gesungen, laut sei jetzt dein Preis von mir!“). Elisabeth rettet ihn vor der Verdammung und er begibt sich auf Büßergang zum Papst nach Rom.
Im letzten Akt sucht Elisabeth vergeblich unter den Pilgerscharen nach Tannhäuser und tötet sich selbst für das Heil ihres Geliebten. In „Todesahnung“ stimmt Wolfram währenddessen sein berühmtes Loblied auf den „holden Abendstern“ an – gemeint ist natürlich Venus. Des Nachts kehrt Tannhäuser zurück und berichtet Wolfram von der fehlenden Absolution – die sogenannte Rom-Erzählung zählt zu den anspruchsvollsten und exponiertesten Tenorarien in Wagners Opernwelt – und seiner Sehnsucht nach dem Leben bei der daraufhin erscheinenden Venus. Im letzten Moment ruft Wolfram Elisabeths Namen und hält Tannhäuser so in der irdischen Realität, wo er nun seine Geliebte im Sarg wiederfindet und über ihren Leichnam gebeugt stirbt. Im Sonnenaufgang künden die Pilger schließlich vom nächtlichen Wunder des Herrn: „Der Gnade Heil ist dem Büßer beschieden“, Tannhäuser posthum erlöst.
Vom Sorgenkind zum Liebling
Wurde der Uraufführung noch bescheidener Erfolg zuteil, stieg Wagners fünfte Oper in den Folgejahren auf der Beliebtheitsskala empor. 1849 dirigierte sie Franz Liszt viel beachtet in Weimar, Kaiser Napoleon III. holte sie nach Paris (Wagners dafür zunächst widerwillig komponiertes Bacchanal als Ballett-Einschub löste zugleich einen handfesten Skandal aus), und 1875 nahm der Komponist für eine Aufführung in Wien noch einmal Änderungen vor. Letztgültig fertig wurde das Werk im Übrigen nie: „Ich bin der Welt noch einen Tannhäuser schuldig“, soll er wenige Wochen vor seinem Tod zu Ehefrau Cosima gesagt haben.
Längst zählt das Sorgenkind Wagners – mit keiner Oper hatte er mehr gehadert als mit „Tannhäuser“ – zu den gern inszenierten und mitunter heiß diskutierten Musiktheaterwerken. 1972 etwa sorgte die als vermeintlich sozialistisch gedeutete Lesart des aus der DDR stammenden Götz Friedrich für einen Aufschrei bei den Bayreuther Festspielen. Skandalös, aber dafür geliebt, fiel Harry Kupfers Inszenierung 1990 an der Hamburgischen Staatsoper aus mit ihren Versatzstücken aus griechischer Antike und handfesten Schmuddelfilmchen.
In jüngerer Zeit machten unter anderem die Produktionen von Tobias Kratzer und Matthew Wild von sich reden. Erstgenannter zeichnete zwischen 2019 und 2024 auf Bayreuths Grünem Hügel den Sagenstoff als anspielungsreiches und farbenfrohes Roadmovie um ein Kollektiv performender Anarcho-Clowns; sein australischer Kollege verlagerte auf der Bühne der Oper Frankfurt das Geschehen in die Welt katholisch-biederer amerikanischer Colleges in den 1960er-Jahren, in der sich ein gefeierter und zugleich verzweifelter Bestseller-Autor versehentlich outet und so Opfer eines vom Klerus angeführten homophoben Mobs wird.
Uraufführung: 19. Oktober 1845, Königliches Hoftheater Dresden
Spieldauer: ca. 3 Stunden
Personen:
- Hermann Landgraf von Thüringen (Bass)
- Tannhäuser (Tenor)
- Wolfram von Eschinbach (lyrischer Bariton)
- Walther von der Vogelweide (Tenor)
- Biterolf (Bass)
- Heinrich der Schreiber (Tenor)
- Reinmar von Zweter (Bass)
- Elisabeth Nichte des Landgrafen (Sopran)
- Venus (Sopran)
- Ein junger Hirt (Sopran)
- Vier Edelknaben (Sopran und Alt)
- Chor (Bacchantinnen, Thüringischer Adel, Pilger)
Orchesterbesetzung: 3 Flöten (3. auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, 2 Ventilhörner, 2 Waldhörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Basstuba, Pauke, Große Trommel, Becken, Triangel, Tamburin, Harfe, Streicher